Gilgamesch und seine Nachfahren

Das von Sir Leonard Woolley im südmesopotamischen Ur freigelegte Königsgrab von Ur ist - so behaupte ich - das Grab des Gilgamesch; denn dieser Gilgamesch von Kullab ist auch jener Mesch-Kalamdug, auf dessen Goldhelm Woolley in besagtem Königsgrab stieß. Er ist auch Mesa-Lim (= der Gott Mescha) und vor allem der in der Liste Ur I an erster Stelle aufgeführte Mesch-anni-padda. Nur einem Gottkönig wie Gilgamesch konnte die beinahe unglaubliche Ehre erwiesen werden, dass sich sein ganzes Gefolge lebendig neben seinem Leichnam begraben ließ - so wie Woolley nach annähernd dreitausend Jahren feststellte. Ich will nun versuchen, den Lebensweg dieses Gilga-mesch-kalam-dug oder dieses Herrn von Kullab zu rekonstruieren.

"Herr von Kullab" bedeutet mehr als "Anni-padda", also "Herr des Paddan-Aram", wie Südmesopotamien im AT heißt. Kullab oder Kalam umfasst ganz Mesopotamien. Aus dem südmesopotamischen Stadtkönig Gilga-mesch-anni-padda wurde nach dessen Sieg über Agga von Kisch im Jahre 93 ndFl der Gottkönig von ganz Mesopotamien Mesa-lim-kalam-dug. Seine Tätigkeit in Nordmesopotamien nahm er jedoch schon vor dem Sieg über seinen Neffen Agga auf. So erfolgte seine Gründung der Stadt Mari am mittleren Euphrat, der zehnten und angeblich drittletzten Gründung nach der Sintflut, noch unter seinem Namen Mesch-anni-padda, wie André Parrot¹ bei seinen Ausgrabungen dort feststellte.

Geboren etwa im Jahre 37 ndFl wurde er im Jahre 53 ndFl von seinem Großvater Enmerkar gegen den Gottkönig Humbaba vom Zedernwald in Anschan auf dem Hochland von Aratta geschickt, worüber im vorigen Kapitel schon abgehandelt worden ist. Zu dieser Zeit war er schon der fünfte Herrscher in Uruk. Nach dem Tode seines Bruders Enmenbaragisi im Jahre 83 ndFl war er der herausragende letzte große Nachfahre des altehrwürdigen Gottkönigsgeschlechts, das mit Oannes, Anu, Utu(napischtim) und Meski-Humbaba an die 170 Jahre über Sumer geherrscht hatte. Seit 93 ndFl war er nun selbst Gottkönig und in dieser Eigenschaft und unter seinem Namen Mesa-Lim (lim = Gott) gründete er die bedeutende Stadt Lagasch in Südmesopotamien. Möglicherweise bestand diese Stadt jedoch schon vorher, so dass er lediglich als der Begründer des Ningirsu-Tempels von Tello, einem Stadtteil von Lagasch, in Frage kommt.

Lagasch wird in der Folgezeit eine wichtige Rolle in der Geschichte spielen. Es lag von Anfang an im Streit mit seiner Nachbarstadt Umma wegen der Wasserrechte an dem zu beiden Städten gehörenden Kanal. Die Schlichtung eines solchen Streites durch Mesa-Lim ist inschriftlich festgehalten worden.

Mit Sicherheit gründete Gilgamesch - und zwar noch unter seinem Namen Mesch-anni-padda - die Stadt Ur (= Warad) "in Chaldäa", wie es im AT heißt; denn Südmesopotamien galt in späterer Zeit als ein Besitztum der Chaldäer, die keineswegs eine semitische Völkerschaft waren, wie ich noch in späteren Kapiteln zeigen werde. Ur blieb auch die Residenz des Gottkönigs Meschkalamdug, wie die Anlage des Königsgrabs hier beweist. Dass Mesch-anni-padda in der Liste Ur I nur unter diesem Namen und nicht mit seinem Gottkönigsnamen aufgeführt wird, kann nicht davon abhalten, auch den Gilgamesch-Lim in Ur residieren zu sehen. Gilgamesch-annipadda weihte Ur seinem Urgroßvater Nannar, dem Mondgott und Bruder des Sonnengottes Utu(napischtim).

Bevor wir auf die Nachfolge-Dynastien nach Gilgamesch eingehen, verabschieden wir uns von den "Semiten" in Kisch, den Nachfolgern des Dumuzi, und geleiten sie an den mittleren Euphrat, wohin sie sich vor den Sumerern, die für die folgenden zweihundert Jahre die Schlüsselpositionen in Mesopotamien besetzt halten, zurückziehen. Diese "Semiten" nennen sich fortan "Sabäer", welchen Namen sie von ihrer Göttin Ninsun oder Nisaba herleiten, der Mutter von Gilgamesch und Enmenbaragisi. Ihr Land, das außer der offenkundigen Hauptstadt Nisibis bzw. Soba noch die bedeutenden Städte Ebla und Haran (das spätere Charrae der Römer) einschloss, nannten sie Zabalam.

Es war die Zeit der Muttergottheiten, in der auch der Kult der Inanna von Uruk aufkam. Die männlichen Gottheiten wurden vorübergehend etwas in den Hintergrund gedrängt, und zwar von den jetzt mehr und mehr aufkommenden männlichen Gottkönigen, den Großkönigen, die die göttliche Verehrung einzig auf sich ausrichteten. Gilgamesch war der erste in dieser neuen Reihe, und es ist so gut wie sicher, dass er dem Gottkönigtum völlig neue Dimensionen verlieh, die auch später noch wirksam waren. Sumer wurde das große Vorbild im gesamten Vorderen Orient des Altertums.

Während sich für die folgenden zwei Jahrhunderte Dunkelheit über die Geschichte der Sabäer von Zabalam ausdehnt, strahlt die Sonne Sumers über einem blühenden Land. Dieses Buch kann nicht die gesamte Geschichte Sumers ausbreiten. Es sind die chronologischen und dynastischen Aspekte, auf die es ankommt. Um sie zu gewinnen, greifen wir auf die schon mehrfach erwähnten Listen der ersten Stadtdynastien nach der Flut zurück, die eine wertvolle Hilfe darstellen.

Als älteste haben wir die Liste Kisch I bereits kennengelernt, die eigentlich mit Agga auslaufen müsste. Da sie jedoch offensichtlich die Gesamtliste von Kisch ab der Flut bis zum 23. König ist, deren Reihenfolge durcheinander geraten sein muss, wenden wir uns der Liste Kisch II zu. Vermutlich stecken deren Namen aber auch in der ersten Liste, wo hier und da Namen auftauchen, die an Namen in der Liste Kisch II anklingen.

Auch in der Liste Kisch II sind die Angaben zu den Regierungslängen der einzelnen Könige wieder sehr unglaubhaft. Allerdings empfiehlt es sich hier, die Zahlen durch 18 zu teilen, um auf eine passende Regierungszeit zu kommen. Das scheint auch diesmal wieder sehr willkürlich zu sein; doch wir werden sehen, dass das durchaus vertretbar ist:

Die Gesamtdauer der Dynastie Kisch II wird mit 3195 Jahren für acht Könige angegeben. Geteilt durch 18 käme man auf glaubhaftere 177 1/2 Jahre. Das entspricht genau der Angabe für die Länge der 1. Dynastie von Ur. Da am Ende aller Dynastien, die mit Gilgamesch begannen bzw. auf ihn folgten, der große Umsturz des Jahres 270 ndFl erfolgen wird, so müssen die Dynastien Kisch II und Ur I mit dem Regierungsantritt des Gottkönigs Gilga-Mesch-kalam-dug im Jahre 93 ndFl beginnen. Die Längen der übrigen Dynastien werden abweichend von 177 Jahren angegeben.

Die 1. Dynastie von Uruk beginnt der Liste Uruk I zufolge mit Meski-agga-scheir, dem Sohn des Sonnengottes, der 325 Jahre regiert haben soll, gefolgt von Enmerkar mit 420-jähriger Regierungszeit, darauf folgen Lugalbanda der Schäfer mit 1200 Jahren und Dumuzi der Fischer mit bescheidenen 100 Jahren. Die beiden letzteren werden ausdrücklich als der Gott bezeichnet. Schließlich soll Gilgamesch (so wird er in dieser Liste genannt) 126 Jahre regiert haben. Die Jahresangaben sind in dieser Form unverständlich; erst wenn man die ersten vier durch 60 dividiert, werden sie sinnvoll:

Meski	325 : 60 =	5 5/12 Jahre = 5 Jahre, 5 Monate
		entsprechend von 20 bis 25 ndFl
Enmerkar	420 : 60 =	7 Jahre " " 25 " 32 "
Lugalbanda	1200 : 60 =	20 " " " 32 " 52 "
"Dumuzi"	100 : 60 =	1 2/3 Jahre = 1 Jahr 8 Monate
		entsprechend von 52 bis 53 ndFl

Außerdem ist für "Dumuzi" der Name Inanna einzusetzen. Die Angabe zu Gilgamesch ist wieder anders zu interpretieren. Er regierte nicht etwa 126 Jahre; er kann auch nicht nur 126 : 60 = 2,10 Jahre regiert haben; bei ihm bedeutet diese Jahreszahl, dass er bis zum Jahre 126 ndFl regiert hat, das demnach als sein Todesjahr anzusehen ist.

Die restlichen sieben Könige von Uruk werden mit durchaus glaubhaften Regierungslängen angegeben. Insgesamt kommen noch 140 Jahre bis zum Ende von Uruk I zusammen, so dass diese Dynastie im Jahre (126 + 140 =) 266 ndFl enden müsste. Eine andere Möglichkeit der Erklärung wäre die, dass die restlichen 140 Jahre ab dem Jahr zu zählen sind, in dem Gilgamesch-anni-padda nach Ur umzog. Dies kann schon vor dem Jahre 93 ndFl geschehen sein; denn auch die Dauer der folgenden Dynastie weist in diese Richtung:

Nur 136 Jahre werden der 1. Dynastie von Mari zugebilligt, die schon unter Gilga-Mesch-anni-padda begann. Da Mari vor 93 ndFl schon gegründet worden sein muss, als sein Gründer noch nicht Gottkönig war, so muss das Ende der 1. Dynastie von Mari auch schon vor (93 + 136 =) 229 ndFl liegen. Über die Ursache, weshalb diese so weit nördlich beheimatete Dynastie schon so zeitig endete, lässt sich nur noch spekulieren. Für exakte Angaben reichen die Informationen einfach nicht aus.

In Verbindung mit der Suche nach einer Erklärung für die restlichen 140 Jahre der 1. Dynastie von Uruk ließe sich argumentieren, dass Gilgamesch vier Jahre vor der Gründung Maris von Uruk nach Ur umzog und sich in Mesch-anni-padda umbenannte, also "Herr von Südmesopotamien" wurde. Das ist mit dem Tode seines Bruders möglicherweise zu verbinden und würde zu einem gemeinsamen Ende der ersten Dynastien von Uruk und Mari führen, das - wie oben schon gefordert - vor dem Jahr 229 ndFl liegen müsste. Es bietet sich hierfür das Jahr 223 ndFl an, wie weiter unten näher erläutert wird.

Die 1. Dynastie von Lagasch ist von den Historikern an einer ganz falschen Stelle untergebracht worden. Ur-Ningirsu und seine Nachfolger gehören nicht in die Zeit nach Gudea von Lagasch, wo sie konventionell hingeraten sind, sondern sie gehören schon in die in Rede stehende Zeit. Über ihre Gesamtregierungszeit ist ebensowenig bekannt wie über ihre Einzelzeiten. Eine Liste, wie sie zu den anderen Dynastien jeweils existiert, gibt es für Lagasch I nicht.

Kurz nach 200 ndFl tauchte in Lagasch Ur-Nansche (Ur-Nina) auf, der meines Erachtens noch aus der Dynastie Lagasch I hervorgegangen sein dürfte. Ihm kann unter Umständen das Ende der Dynastien von Mari und Uruk angelastet werden, da dies in seine Zeit fällt (Ende A: 223 ndFl). Es war jedenfalls sein Enkel Eannatum bzw. Eannadu, der den beiden übrigen Dynastien spätestens im Jahre 270 ndFl ein Ende bereitete (Ende B). Er wurde zum Begründer eines neuen sumerischen Großreiches, wie es seit dem Tode des Gilgamesch nicht mehr bestanden hatte; denn dessen Nachfolger hatten keinen Großkönig über sich haben wollen. Es war dies die Zeit der Stadtkönigtümer, die Zeit der großen Prosperität Sumers.

Das Großreich des Eannatum erstreckte sich weit über die Grenzen Mesopotamiens hinaus. Es umfasste vermutlich auch die sabäischen Gebiete am mittleren Euphrat. Hier in Zabalam, dem Saba-Land, das nach der Hauptstadt Nisibis oder Soba so benannt war, hatten die aus Kisch vertriebenen semitisch orientierten Herrscher ein neues Imperium geschaffen, das - wie ich oben schon sagte - der Göttin Ninsun geweiht war, die in semitischer Sprache Nisaba oder Nini-Zaza hieß.

Gilgamesch wird in der Überlieferung als 2/3-Gott und 1/3-Mensch bezeichnet, nämlich zu je 1/3 von Göttern, den SUMERERN Enkidu und Inanna, und zu 1/3 von Menschen, dem SEMITEN Dumuzi abstammend.

Zweites Buch: Die geschichtliche Zeit beginnt

2. Kapitel: Gilgamesch und seine Nachfahren