Neuntes Buch: Kyros
3. Kapitel:
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Hellas vor dem Peloponnesischen Krieg
3. Teil: Thessalien - Phrygien - Makedonien
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Die Könige der Makedonen und Thessaler gehören zu ein und derselben Familie; sie sind teilweise sogar miteinander identisch. Vermutlich gehören neben Phrygern auch Thraker, Skythen und Illyrer dazu. Die Thraker sind ohnehin in zwei Hauptgruppen zu zerlegen: die Thyner, deren Name direkt auf die Phryger-Provinz Bi-Thyni-en (= Kar-Duni-asch) und den thrakischen Volkstamm der Edonen hinweist, und die Odrysen. Da sich die den Phrygern ebenfalls verwandten Dardaniden eindeutig auf die Meder zurückführen lassen, so ist die Bezeichnung "Mager", die gern für die Meder verwendet wird, für die Makedonen (vgl. auch "Myrmidonen") verständlich, zumal die Makedonen auch als Thrako-Phryger bezeichnet werden. Das Dardaniden-Haus des Priamos von Troja war mithin sowohl phrygisch als auch makedonisch.
So kann der erste uns bekannte Makedone, der Stammvater des Makedonen-Geschlechts schlechthin, wenn er auch selbst noch kein Makedonenkönig war, sondern ein Sohn des Dardaniden Priamos, als phrygischer Heerführer zunächst in die Sage und letzlich in die Geschichte eingehen: Alexandros, der Schwanenhalsige = Kyknos (griech. für Schwan). Seine Gemahlin Leda hatte er aus Argos heimgeführt. Sie war eine Tochter des Thyestes-Thestios von Kalydon, der mit seinem Bruder Diomedes im Zuge der nordwestgriechischen Wanderung um 624 ndFl in Argos gelandet war. Dort bestieg Diomedes den Thron des bei der Katastrophe Typhon 4 umgekommenen Pheidon ("Die Nacht der argivischen Tyrannen").
Die Zwillingssöhne des Paares "Kyknos" und Leda wurden vermutlich schon im Jahre 631 ndFl geboren: Perideikes-Perdikkas = Kastor und Pollux = Polydeikes-Philipp (I). Diese "unechten" Dioskuren wurden im Zuge der Verherrlichung des Makedonenhauses durch die Dichter am Hofe des Alexander Philhellen geschaffen. Ihre Vorbilder, die echten Dioskuren, waren bekanntlich die Söhne Aristodemos und Zeuxidamas des Lakedaimoniers Aristomachos-"Tyndaros". Diesem "Tyndaros", dem "Zerschmetterer", dichtet die Sage die Gemahlin Leda und die Söhne Kastor und Pollux an. Da die Sage andererseits aber auch Zeus "in Schwanengestalt" als den Vater der Dioskuren (= "Nachkommen des Zeus-Dion") ausgibt, so kann die Identifizierung des Tyndaros mit Zeus in der Sage nicht ausbleiben. Automatisch wird durch diese Familienkonstruktion Leda zur Mutter der Helena, was sie natürlich nicht war und generationsmäßig auch gar nicht gewesen sein kann. Helena war eine um 612 ndFl geborene Tochter des Tyndaros-Aristomachos mit einer unbekannten (dorischen?) Frau, und Leda dürfte um dieselbe Zeit dem Thestios geboren sein.
Herodot (I, 3) nennt den Sohn des Priamos, der nach Lakedaimon geht, um sich dort eine Frau zu rauben, Alexandros. Dieser hatte aber bereits die Leda, und zwar ohne sie zu rauben, um 630 ndFl geheiratet. Der Name Paris des wirklichen Frauenräubers kommt bei Herodot überhaupt nicht vor. Ich schließe daraus, dass erstens der Name dieses Priamos-Sohnes anders gelautet haben muss, und dass zweitens die vollendete Ilias1 dem Herodot noch gar nicht bekannt war. Sie wurde erst nach dem Perserkrieg geschaffen. Auf keinen Fall hieß dieser Trojaner Alexandros. Hierbei handelt es sich um eine Verwechslung, wie wir sie bei Herodot häufig finden.
Da Alexandros-Kyknos im Verlaufe des Trojanischen Krieges stirbt - er wird von Achilles solange gewürgt, bis sein Hals schwanenartig lang geworden ist -, so kann davon ausgegangen werden, dass er keinen Thron mehr besteigen konnte. Er war vermutlich sogar nur der Heerführer des Phrygerkönigs Partatua-Phraortes-Protothyas-Perithoos oder dessen Sohnes Madyas-Midas. Des letzteren ist wahrscheinlicher; denn im Jahre 641 ndFl besiegte Kadaschman-Charbe das phrygische Heer mitsamt den Sutu-Söldnern (= Skythen) unter Madyas, dem Sohn des Protothyas. Kadaschman-Charbe wird der Herrscher von Daskyleion im daskylischen Gau, womit Phrygien gemeint sein dürfte. Makedonen sind fürs erste noch nicht in Sicht, jedenfalls nicht auf Thronen.
Was geschah mit Leda und ihren Kindern nach dem Trojanischen Krieg? Die Sage interessiert sich hierfür nicht. Die weitere Entwicklung der Geschichte lässt aber einige Kombinationen zu; zum Beispiel die Wegnahme der Kinder von ihrer Mutter durch den Herrscher Diomedes von Argos, der am Krieg teilgenommen hatte. Die Mutter selbst dürfte den angeblichen Vater des Achilles geheiratet haben, den frommen Pelias-Peleus von Thessalien. Seine Eheschließung gibt in der Sage den Anstoß zum Trojanischen Krieg. Dass er die Meergöttin Thetis geheiratet haben soll, die schon an die zweihundert Jahre zuvor Poseidon-Asterion geheiratet hatte, ist pure Dichtung wie die Gestalt deren beider Sohnes Achilles ebenfalls.
Das im Zusammenhang mit der Hochzeit des Pelias-Peleus stattgefundene Paris-Urteil, auf das hier nicht mehr eingegangen werden soll, löste in seiner Konsequenz den Krieg schließlich aus. Eine historisch verifizierbare Verbindung zwischen Hochzeit und Krieg ist jedoch nicht herstellbar. So bleibt die Möglichkeit offen, diese Hochzeit nach dem Krieg stattfinden zu lassen, und zwar zwischen Pelias-Peleus und Leda. Anders ist die Beziehung dieses Mannes zum Trojanischen Krieg kaum vermittelbar.
Achilles ist meines Erachtens Alexandros selbst, der sich als Anführer der Myrmidonen (= Makedonen) und Stammvater der gefeierten Makedonen zur Zeit des Alexander Philhellen verselbständigt hat. Daher kann er auch den Anführer des Phrygerheeres, das den Trojanern zu Hilfe kommen wollte, nämlich Alexandros-Kyknos, töten, obwohl er mit ihm identisch ist. Die Dichtung macht das möglich. Wenn später Alexander der Große in der Troas das Grab des Achilles besucht, dann steht er am Grabe seines Vorfahren Kyknos-Alexandros, der indes alles andere als ein Sieger war.
Wer war aber dieser Pelias-Peleus in der Geschichte? Die Argonautensage, in der uns Pelias begegnet, verbindet mindestens zwei Sagenkreise miteinander2: Die Argonautensage vereinigt die Sagen der thessalischen Stadt Jolkos (und) des boiotischen Orchomenos ... Jolkos ist die Heimat des Jason, des Führers der Argonauten. Er ist der Sohn des Aision, steht aber unter der Vormundschaft seines Oheims Pelias und wird... von dem Kentauren (Skythen?) Cheiron auf dem nahen Pelion erzogen und in der Heilkunde unterrichtet. Während seiner Abwesenheit hatte Pelias, wie Pindar in seinem 4. pythischen Siegesgedicht singt, das Orakel erhalten: "Vor dem Einschuh-Manne sorgsam immer und immer zu sein auf der Hut..."
Jason ist übrigens nicht der Sohn des Aision-Ixion, eines Sohnes von Kretheus-Minos, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit der Sohn des Admetos von Pherai. Darauf komme ich weiter unten zurück. Aision-Ixion war der minoische Statthalter in Orchomenos zur Zeit des Perseus. Von Orchomenos aus fuhren die "Argonauten" Kalais, Sohn des Boreas-Orion, und Zethes = Geb-Anubis-Phrix, Sohn des Atlas-Schu-Thum = Seth IV, mit Perseus nach Kleinasien.
Die Sage berichtet nun weiter, dass Jason auf seiner Rückkehr in die Heimat beim Überschreiten des Anauros-Flusses einen Schuh verloren hatte, weshalb sich Pelias um seine Herrschaft Sorgen machte. Um ihn loszuwerden, schickte er Jason nach Aia (Kolchis), damit er das Goldene Vlies hole. Diesen Argonautenzug brauchen wir hier nicht mehr zu besprechen. Er gehört in einen anderen Zusammenhang. Unter Jason fand er nicht statt.
Aber auch der Einschuh-Mann gehört nicht nur hierher, sondern ebenfalls in eine zurückliegende Zeit, nämlich in die des Wundfußes (griech.: oidipos) Eurytos-Eurypos-Oidipos. Besser gesagt: der ältere "Wundfuß" war kein solcher; aber er war derjenige Teilaspekt des "Oidipos", der unwissentlich seinen Vater Laios (= Lyaios, Dionysos) tötete, nicht jedoch seine Mutter heiratete. Der tatsächliche "Wundfuß" war der Einschuh-Mann Jason, der vermutlich eine Prothese trug oder eine ähnliche Beinverletzung hatte. Er muss seinen Vater nicht (selbst) getötet haben. Jason wuchs möglicherweise bei seinem Onkel auf, weil seine Mutter verstorben war und deshalb der Vater die Tochter Alkestis seines älteren Bruders Pelias geheiratet hatte. Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen; es kann durchaus in Wirklichkeit der Fall gewesen sein, dass Jason überhaupt nicht bei seinem Onkel aufwuchs, dass nämlich diese Konstruktion nur wegen der Argonautensage überhaupt erst geschaffen wurde.
Jason ist der andere Teilaspekt des "Oidipos", und zwar derjenige, der seine Mutter heiratet; besser: seine Stiefmutter bzw. die angeheiratete Adoptivmutter Leda. Nicht Medeia von Kolchis wird die Frau des Jason, wie die Sage es will; diese Frau ist schon längst verstorben. Aber Leda kann es gewesen sein, die - anstatt Medeia - die Töchter des Pelias dazu überredet, ihren Vater zu töten, was diese tatsächlich tun. Ob dies wirklich so war, bleibt offen. Jedenfalls stirbt Peleus-Pelias offenbar eines gewaltsamen Todes, und Leda und Jason heiraten.
Alkestis, die einzige Tochter, die nicht an der Ermordung ihres Vaters beteiligt war, stirbt später für ihren Gatten Admetos von Pherai den Opfertod. Dieser kann der Vater des Jason gewesen sein und überleiten zu der Residenz, die der Sohn Jason und Leda jetzt beziehen: Pherai in Thessalien. Hierdurch wird Jason von Pherai aber auch historisch. In den Hellenika (Buch VI) taucht er als Tagos (etwa gleichzusetzen mit Herzog) von Thessalien erst zu einer Zeit auf, in der er schon längst tot ist: sein angeblicher Zeitgenosse ist Kleombrotos, der jedoch erst ein Jahr vor dem Tode des Jason geboren wurde (688 ndFl).
Wie ich schon an anderen Stellen sagte, sind die Hellenika des Xenophon "aus den Fugen" geraten. So steht auch Jason von Pherai an der falschen Stelle; er gehört nicht in dasselbe Kapitel wie Kleombrotos als König von Sparta. Allerdings sind die Jason betreffenden Passagen in eine Rede (des Polydamas von Pharsalos) verpackt, um dem offensichtlichen Anachronismus auszuweichen. Dafür, dass es sich bei dem Inhalt dieser Rede um lange zurückliegende Ereignisse handelt, spricht auch, dass die Ermordung des Jason noch in Buch VI mitgeteilt wird.
Konventionell ist dieser Anachronismus nicht erkannt worden; daher stehen Jason von Pherai und Kleombrotos von Sparta in den Hellenika als Zeitgenossen (konv. um 370 v.Chr.) nebeneinander. Allerdings haben die Historiker gerade an dieser Stelle ein besonders ärgerliches Chaos.
Xenophon, Hellenika VI. Buch, 1. Kapitel: (Vers 2) Beinahe gleichzeitig erschien auch aus Thessalien vor der Versammlung der Lakedaimonier der Pharsalier Polydamas. Dieser stand nicht nur in ganz Thessalien in höchstem Ansehen, sondern galt besonders in seiner Vaterstadt als ein so edler und rechtschaffener Mann, dass ihm die Pharsalier nach einem Bürgerzwist die Burg überantwortet und ihm übertragen hatten, die Einkünfte in Empfang zu nehmen ...3
Das hört sich nicht so an, als ob Jason von Pherai noch lebe. Trotzdem klingt in der Rede des Polydamas an, dass Jason noch nicht tot ist: (Vers 5) ... auch ihr habt ... schon längst den Namen Jason gehört. Denn dieser Mann verfügt über eine gewaltige Macht, und sein Name ist in aller Munde. Dann aber sagt Polydamas etwas, das so ganz und gar nicht zu dem Einschuh-Mann passen will:
(Vers 6) Er selbst ist ein Mann von überaus kräftigem Körper und pflegt überhaupt keiner Anstrengung auszuweichen.
Um etwas ganz Allgemeines zu den Reden in den Schriften antiker Historiografen zu sagen: Ich halte nichts davon; denn es gab weder Diktafone, noch hat man Anzeichen für eine Art Stenografie gefunden. Und selbst wenn es Stenogramme von solchen Reden gegeben hätte: Wer garantiert, dass die Historiografen Zugang dazu gehabt hätten? Diese Reden sind allesamt glatte Erfindungen der Historiografen selbst oder - wie bei einigen Passagen Herodots ganz deutlich wird - der Kopisten. Die Möglichkeit, Reden einzufügen, stellt eine ungeheure Verlockung dar, dies auch zu tun.
In den Erläuterungen zu Hellenika Buch VI heißt es: Iason von Pherai (war) wahrscheinlich (der) Schwiegersohn des Tyrannen Lykophron und dessen Nachfolger. Gestützt auf großen persönlichen Reichtum, mit politischem Weitblick begabt und gut gebildet (er soll Schüler des Sophisten Gorgias gewesen sein), brachte er einen einheitlichen Staat der Thessaler zustande und ging mit großzügigen Plänen und Ideen zur Einigung der Griechen und Eroberung des Perserreiches um, wie sie später Philipp von Makedonien und Alexander d.Gr. verwirklichen konnten. Hauptquelle ist Xenophon, der vermutlich den Polydamas von Pharsalos persönlich in Sparta gehört und kennengelernt hat. Er erkannte die Bedeutung des Iason für seine Zeit und beurteilte die Motive für seine Handlungsweise richtig.
Lykophron von Pherai besiegte im letzten Jahr des Peloponnesischen Krieges (konv. 404 v.Chr., richtig 720 ndFl = 160 v.Chr.) gerade ungefähr gleichzeitig mit einer Sonnenfinsternis (Hell. II 3, 4) widerspenstige Thessaler (u.a. Larisaier) in einer blutigen Schlacht. Wegen dieses späten Zeitpunktes kann Lykophron gar nicht der Schwiegervater des längst verstorbenen Jason gewesen sein. Er war einer von dessen späten Nachfolgern. Der Kommentator gibt übrigens das Datum für obige Sonnenfinsternis an: 3. September 404 v.Chr.; dies ist unter den Aspekten der berichtigten Chronologie jedoch irrelevant! Außerdem gehören die Sonnenfinsternis und Lykophron ins Jahr 692 ndFl, wie ich noch erläutern werde.
Der Sophist Gorgias von Leontinoi, der im Jahre 428/427 v.Chr., also im vierten Jahr des Peloponnesischen Krieges: 696 ndFl, von Sizilien nach Athen kam, kann nur dann der Lehrer Jasons gewesen sein, wenn er zum Zeitpunkt seiner Athen-Mission schon über achtzig Jahre alt gewesen sein sollte. Er müsste um 610 ndFl etwa geboren sein, um den um etwa 625 ndFl geborenen Jason unterrichten zu können, etwa in den Jahren 640-645 ndFl. Das ist verträglich.
Der Hinweis auf die politischen Pläne Philipps und Alexanders von Makedonien entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie: Jason war ein Vorfahre mütterlicherseits der beiden, was konventionell nicht zu erkennen ist. Vermutlich war dies der Grund, warum Jason in die Rede des Polydamas verpackt wurde: Xenophon wollte den - vermutlich verkrüppelten - Vorfahren der zu seiner Zeit tonangebenden Makedonen in ein günstiges Licht rücken.
Selbstverständlich kann Polydamas noch ein Zeitgenosse des späten Jason gewesen sein; denn seine Rede gehört etwa in das Jahr 726 ndFl (Kleombrotos und Agesilaos heerführende Könige in Sparta), in dem er etwas über fünfzig Jahre alt gewesen sein und in seinen Jugendjahren den Tod des Jason erlebt haben könnte. Das genaue Datum für den Tod Jasons lässt sich nicht angeben, dürfte aber bei 688/689 ndFl liegen.
Der Statthalter des Jason in Epeiros (Epirus), der auch als König der Molosser gilt4, war Alketas, dessen Name an den der Tochter Alkeste des Peleus-Pelias anklingt. Das kann aber auch Zufall sein. Jason wurde nach dem Anschluss von Pharsalos der Tagos (Herzog) von ganz Thessalien. Das kann ebenso gut schon unter dem Vater bzw. Vorgänger des Polydamas geschehen sein. Konventionell folgt man der bei Xenophon wiedergegebenen "Rede des Polydamas" und hält an dessen Darstellung fest, dass erst Polydamas Pharsalos freiwillig in das vereinigte Thessalien Jasons von Pherai einbrachte (konv. 372 v.Chr.). Die Gründung der Thessalischen Tetrarchie (342, aber auch "8. Jhdt." v.Chr.) kann dies noch nicht gewesen sein; denn Jason war zweifellos Alleinherrscher, und "Tetrarchie" bedeutet "Viererherrschaft". Dazu kommt es erst später.
Die Einigung Thessaliens durch Jason gehört frühestens in das Jahr 656 ndFl, als der Einschuh-Mann etwa dreißig Jahre alt war. Die Rede des Polydamas suggeriert, dass Jason noch ein Zeitgenosse von Kyros d.J. und dem spartanischen König Agesilaos gewesen sei. Ich meine, dass dies zwar für Polydamas, nicht aber mehr für Jason zutrifft. Hier scheinen die oben angesprochenen Interessen vorzuliegen. Kyros der Jüngere war von 724 bis 726 ndFl König von Persien. Wenn demnach in Hell. VI, 1, 12 das Heer des Kyros (ohne weiteren Zusatz!) erwähnt wird, dann kann es sich dabei um das Heer Kyros' des Älteren handeln, was für den Kopisten unvorstellbar gewesen wäre. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, Jason in die falsche Zeit zu suggerieren - die Erwähnung des Kyros hat den Anachronismus noch leichter gemacht: man verstand einfach "Kyros der Jüngere".
Der Hinweis in den Hellenika (VI, 1, 19) auf einen früheren Tagos der Thessaler mit Namen Skopas, an den die Thessaler schon Abgaben zu entrichten hatten, kann sich auf den Vater des Skopaden Diaktorides beziehen, der mit einem gewissen Alkon, einem Molosser aus Epirus, zu der Hochzeit bei Kleisthenes kam (Herodot VI, 127). Alkon könnte der Sohn des Molosserkönigs Alketas gewesen sein, des oben erwähnten Statthalters des Jason in Epirus.
Stammbaum der Aiakiden und Peliaden |
Aiakides = Telamon von Salamis
* ca. 560 ndFl
oo Tochter des Labdakos von Theben?
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+------------------+-------------------------+
Aiakos = Aias Admetos (statt Aision) Peleus-Pelias
Ajax der Ältere von Pherai von Phthia
ging von Salamis * ca. 595 * ca. 590
nach Aigina +-----------+ |
* ca. 585 ndFl aus 1.Ehe 2. Ehe +----+--+
| | oo Alkeste Akastos?
| ? * ca. 615 * ca. 620
Ajax der Jüngere | ndFl ndFl
von Lokris |
* ca. 610 ndFl | Thestios-Thyestes von Kalydon/Argos
| |
+------------------+ | Priamos von Troja
| | |
Jason von Pherai oo(2) Leda oo(1) Alexandros-"Kyknos"
* ca. 625 * ca. 612 * ca. 606 ndFl
| ndFl ndFl |
| |
+---------------+ +-- ? ----+---------+
| Ismene oo Ismenias | Perideikes
| * ca. 646 Menelaos | Kastor = Perdikkas
| (oder Sohn | * 631 ndFl |
| Ismenias?) | oo Olympias |
| | * ca. 650 ndFl |
| | |
Antigone ----- oo Antigonos Monophthalmos, Polydeikes, |
* ca. 645 ndFl Pollux, Pelops (auch Polyphron, |
| Polyperchon, Pelopidas) Philipp I |
| * 631 ndFl |
Antigonos Doson |
Amyntas +-----------------------+
* ca. 658 ndFl Alexander der Große Nr. 1
oo Eurydike, oo Gygaia? (Indien-Eroberer)
Tochter des * ca. 665 Archelaos? * ca. 665 ndFl
Adrastos ndFl
* ca. 672 ndFl |
| |
+------------------------+
Philipp II in Aigai Alexander Philhellen in Pella
Demetrios Poliorketes Archelaos?
* ca. 701 ndFl * ca. 681 ndFl
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Alexander der Große Nr. 2
(Ägypten-Eroberer)
* ca. 718 ndFl |
Alle politischen Aktivitäten, die in den Hellenika diesem Jason von Pherai zugeschrieben werden, gehören demnach entweder nicht in eine spätere Zeit oder nicht zu ihm. Lediglich die Angaben ab Hell. VI, 4, 29 halte ich wieder für mit Jason zu verbindende Ereignisse. Dabei handelt es sich um seine Bemühungen um die Leitung der pythischen (delphischen) Spiele und seine Ermordung, die sehr wahrscheinlich im Zusammenhang steht mit dem Beginn des "Heiligen Krieges" der Hellenen (689-691 ndFl), worüber hier noch nicht abzuhandeln ist. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit. Polydamas von Pharsalos soll übrigens auf Anstiften eines der auf Jason folgenden Brüder ebenfalls ermordet worden sein. Das kann nicht zutreffen, da Polyphron, der angebliche Bruder des Jason und vermeintliche Mörder des Polydamas, zu der Zeit der Rede des Polydamas schon tot war.
Jason heiratete die Witwe Leda seines Onkels Pelias-Peleus vermutlich um das Jahr 645 ndFl. Auf welche Weise letzterer umkam, lässt sich unabhängig von der Sage nicht beantworten. Leda war zwar älter als der Einschuh-Mann, aber sie schenkte diesem noch zwei Kinder, die kurz nach ihrer Hochzeit geboren wurden (etwa 645 und 646 ndFl): die Tochter Antigone und den Sohn Ismenias. Die Töchter Antigone und Ismene gelten in der Sage als die des Oidipos und seiner Mutter-Gemahlin Jokaste (Epikaste). Von dieser Konstruktion können wir absehen. Der Sohn Ismenias ist auch Menelaos, ein Halbbruder des Philipp, der uns später noch begegnen wird. Dabei ist zu beachten, dass dieser Menelaos nicht der betrogene Ehemann aus der Ilias war.
Wir wenden uns jetzt dem Schicksal der Kinder der Leda zu, hauptsächlich der Zwillinge Kastor und Pollux. Perdikkas blieb bei seiner Mutter in Thessalien, Philipp kam - möglicherweise als Geisel - mit seinem Großonkel Diomedes nach Argos. Hier wuchsen er und angeblich noch andere Brüder auf, bis sie im Jahre 657 ndFl nach Thessalien aufbrachen, um ihre Mutter und deren dritten Ehemann Jason von Pherai aufzusuchen. In der Überlieferung wird der Onkel in Argos, der drei seiner Neffen aufnahm, Temenos von Argos genannt. Die drei Neffen heißen Perdikkas, Gauanes und Aeropos. Statt des Perdikkas gehört hier Polydeikes-Pollux-Philipp-Pelops hin. Die Tatsache, dass die späteren Könige der Makedonen aus Argos kamen, gab dieser Dynastie den Namen "Argeaden".
Nicht unbedingt zutreffen muss, was Herodot in einer (fiktiven) Rede dem Xerxes in den Mund legt (VII, 11), dass er nämlich "jenes Volk, das einst der Phryger Pelops, meiner Ahnen Sklave, so gründlich besiegt hat, dass bis zum heutigen Tage Volk und Land nach dem Sieger genannt werden," nicht fürchte. Gemeint sind die Peloponnes (= "Insel des Pelops") und die Peloponnesier. Ob das Land nach Pelops oder Pelops-Philipp nach dem Land, auf dem er aufwuchs, so benannt wurde, wage ich nicht zu entscheiden. Bezeichnend ist, dass Herodot bzw. Xerxes Pelops einen Phryger nennt und als Sklaven (wohl besser: Gefolgsmann) seiner Vorfahren hinstellt. Tatsache ist, dass sowohl Perdikkas (unter dem Namen Prexaspes bei Herodot) als auch Philipp I schon bald nach ihrer Ankunft in Thessalien bzw. Makedonien zu den Persern übergingen. In deren Diensten eroberte Pelops-Philipp I große Teile Griechenlands für die Perser.
Ob die Brüder die Absicht hatten, Jason zu beseitigen, ist nicht eindeutig zu klären. Ebensowenig kann entschieden werden, ob es jetzt schon zur Bildung der thessalischen Tetrarchie kam. Zwar waren die Brüder jetzt zu viert, was gemeinsam eine "Viererherrschaft" ergeben hätte; aber ob dies unter dem Tyrannen Jason zu erreichen gewesen wäre, bleibt doch zweifelhaft.
Der großpolitische Hintergrund, vor dem sich die Dinge in Thessalien abspielten, wird von Hethitern bestimmt. Nach den Siegen der Griechen über die Phryger von Troja und des Kadaschman-Charbe über die große Streitmacht der Phryger nur wenige Jahre später, war die Macht der Phryger in dem asiatischen Teil ihres einstigen Reiches getilgt. Midas beging nach seiner Niederlage 641 ndFl Selbstmord, und auf dem phrygisch-daskylischen Thron von Karduniasch-Bithynien saß nun ein Hethiter: Burnaburiasch-Arnuwandas-Pharnaspes. Nach seinem Tod im Jahre 653 ndFl schwand vorübergehend auch die hethitische Macht in dieser Region, und es gelang dem Sohn Gordios des Midas, in Phrygien mit Unterstützung der jetzt wieder friedlichen Hethiter eine Stadt zu bauen, die seinen Namen trug und wo er Statthalterkönig von Phrygien war: Gordion, die Stadt mit dem gordischen Knoten. Es kann diese Stadt aber auch schon vor der hethitischen Zeit von den Phrygern gebaut worden und unter dem Namen "Daskyleion" bekannt gewesen sein, bis sie von Gordios umbenannt wurde.
Der Sohn Adrastos des Gordios taucht bei Kroisos (Herodot I, 35) in großer Bedrängnis auf: er gibt an, seinen Bruder versehentlich getötet zu haben. Nachdem der Pechvogel auch noch den Sohn des Kroisos auf der Jagd versehentlich getötet hatte, gab er sich wie sein Großvater Midas selbst den Tod. Er hinterließ vermutlich eine Tochter mit dem häufig verwendeten Namen Eurydike, die um etwa 672 ndFl geboren sein dürfte. Mit ihr kommen die konventionellen Historiker arg ins Schleudern. Durch das chronologische Chaos permanent verwirrt, machen sie diese Frau einmal zur Gemahlin des Amyntas und Mutter des Philipp II, ein andermal ist sie die Nichte, Tochter oder Enkelin des Perdikkas, und es gibt noch andere Kombinationen. Einige davon können sogar zutreffen. Als Gemahlin des Amyntas ist sie glaubwürdig, nicht jedoch als Mutter des Alexander II.
Jason wird bei einer Truppeninspektion von sieben jungen Männern angefallen und in einem Gemetzel, in das auch die Leibwache Jasons einbezogen ist, ermordet. Ganz Hellas frohlockt und feiert die Mörder, wo immer sie sich zeigen. Wer hinter diesem Anschlag stand, wird nicht gesagt (Hell. VI, 4, 32f.), wohl aber, wer die Nachfolger sind: Nach seiner Ermordung traten seine Brüder Polydoros und Polyphron beide in das Amt eines Tagos ein. Möglicherweise ist das der Beginn der Tetrarchie. Aber woher kommen eigentlich die Brüder? Sind diese (Halb-)Brüder etwa die Stief- bzw. Schwiegersöhne Jasons, Polydoros und Polyphron-Pelops = Polyperchon-Philipp I? Polydoros könnte der Halbbruder des Jason aus der Ehe seines Vaters Admetos mit Leda sein. Er wäre dann der jüngste der drei thessalischen Brüder gewesen.
Konventionell wird der Tod des Jason ins Jahr 370 v.Chr. verlegt, in eine Zeit, in der bei den Historikern großes Chaos herrscht. Wenn es wirklich Philipp und sein Bruder waren, die Jasons Nachfolge antraten, dann müssen diese beiden schon ein respektables Alter erreicht haben; denn als junge Männer hätten sie keinen Rückhalt in der Truppe gefunden. Und die Truppen von Pherai waren nicht zu unterschätzen, wie wir von Polydamas wissen. In welchem Jahr starb aber Jason tatsächlich?
Gehen wir davon aus, dass Jason die Machtergreifung des älteren Kyros im Jahre 687 ndFl noch erlebt hat, dann kann der Tod des Jason hiermit sogar zusammenhängen; denn seine Nachfolger waren offensichtlich Freunde der Perser, zumindest gilt das für den Phryger Philipp-Pelops, den Gefolgsmann der Ahnen des Xerxes (Herod. VII, 11). Nach dem Tode des Adrastos kann sich Philipp-Pelops zunächst als Satrap der Perser auf den phrygischen Thron gesetzt haben. Von hier aus hat er dann die Gewinnung von ganz Hellas für die Perser mit ganz unterschiedlichem Erfolg betrieben. Geholfen hat ihm dabei auch sein Halbbruder Ismenias.
Philipp I ist auch jener einäugige "Monophthalmos" mit der an anderer Stelle bereits erwähnten Schulterverletzung, jener Elfenbeinschulter des Pelops aus der Sage von Tantalos, dem König von Lydien, der in Wirklichkeit Herakles ist und überhaupt keinen Sohn namens Pelops hatte. Dieser Philipp I ist nicht der Vater Alexanders des Großen, keines von beiden; denn erst Philipp II, "der Belagerer" (auf griech.: Poliorketes), ist der Vater eines großen Alexanders, und zwar der Nummer 2.
Ich schätze, dass Jason im Jahre 689 ndFl im Alter von 64 Jahren von seinem Bruder Polydoros ermordet wurde. Seine Gemahlin Leda hätte ein Alter von 76 Jahren gehabt, was sie jedoch vermutlich nicht erreicht hat. In den Hellenika folgen die weiteren Morde jetzt Schlag auf Schlag: Polydoros wurde auf einer gemeinsamen Reise nach Larisa in Thessalien bei Nacht im Schlaf von seinem Bruder Polyphron umgebracht, der danach noch ein einziges Jahr regiert haben soll (Hell. VI, 4,33), ehe er von seinem Neffen Alexandros, dem Sohn des Perdikkas, ebenfalls ermordet wurde. Ich sehe hier aber größere zeitliche Abstände; denn Philipp-Polyphron brachte seinen Bruder Polydoros erst im Jahre 704 ndFl um und wurde im selben Jahr von seinem Neffen Alexander II ermordet. Bis dahin ist noch viel Zeit für große Dinge, über die in diesem Kapitel nicht mehr abgehandelt werden soll.
Es sind noch einige Dinge, über die in diesem Kapitel noch abzuhandeln wäre; aber wie ich an anderer Stelle schon sagte, ist das Chaos in den Schriften der Historiografen und das daraus erwürfelte Chaos der konventionellen Altertumskunde noch so groß, dass ich mich außerstande sehe, zu diesem Zeitpunkt schon eine mit gutem Gewissen vertretbare Rekonstruktion der Hellas-Geschichte anzubieten. Soviel sei aber noch gesagt:
Der Teilaspekt Nr. 1 Alexanders des Großen wird im Jahre 694 ndFl zu seinem Indienzug aufbrechen, und im Jahre 700 ndFl wird er von dort zurückkehren. Er wird nicht - wie sein Teilaspekt Nr. 2 - in Babylon sterben, sondern er wird den Thron seines Vaters Perdikkas im Jahre 704 ndFl einnehmen und als König Alexander (I + II) in Makedonien regieren, nachdem er seinen Onkel Philipp-Polyphron ermordet und Thessalien seinem Herrschaftsbereich einverleibt hat, bis er selbst von Mörderhand den Tod erleidet. Von alledem wird die Großmacht Persien unter Darius I nur wenig betroffen werden.
Es kann sich bei der weiteren Bearbeitung der griechischen Geschichte herausstellen, dass das eine oder andere in dem vorliegenden Kapitel wieder etwas korrigiert werden muss. Solche "Anflüge" auf die Landebahn "Wahrheit" können nicht ausbleiben. Auch ein Pilot setzt nicht ohne die eine oder andere kleine Kurskorrektur beim Landeanflug auf. Wichtig ist, dass er im richtigen Augenblick die Mitte trifft. Und darum werde auch ich mich weiterhin bemühen.
Letzter Stand: 4. November 2013
1 |
siehe dazu das 4. Kapitel im VI. Buch (Band 4): Der Dorereinfall in Hellas und der Trojanische Krieg! |
2 |
Prof. Dr. Hermann Steuding, Griechische und römische Mythologie, Sammlung Göschen, Berlin und Leipzig 1913. |
3 |
Xenophon, Hellenika, herausgegeben von Gisela Strasburger, Artemis Verlag München und Zürich. |
4 |
Hermann Bengtson, Griechische Geschichte, Verlag C.H. Beck München |
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